Besteht für eine Liegenschaft oder eine Fläche der Verdacht auf eine Kampfmittelbelastung, ist dem Verdacht im Rahmen einer Historisch-genetischen Rekonstruktion der Kampfmittelbelastung (Phase A) nachzugehen. Deren Ziele sind die Ursachen und räumliche Ausdehnung einer (möglichen) Kampfmittelbelastung aufzuklären, diese zu bewerten und ggf. weitere Maßnahmen zu empfehlen.
Um die für eine Fläche relevanten Vorgänge und Handlungen rekonstruieren und bewerten zu können, ist die systematische und multitemporale Auswertung von verschiedenen Datenquellen erforderlich:
Für eine fundierte Rekonstruktion sind die notwendigen Informationen bei in- und/oder ausländischen Dienststellen, Archiven und sonstigen Informations- und Wissensquellen zu beschaffen. Art und Umfang der Recherchen und Beschaffungen richten sich nach dem Einzelfall und werden in der Regel in zwei Arbeitsschritten durchgeführt:
Grundlagenermittlung
Bei der Grundlagenermittlung werden die bereits in den verschiedenen Dienststellen vorhandenen Informationen zusammengetragen und hinsichtlich ihrer Aussagekraft in Bezug auf die spezifische Fragestellung ausgewertet und bewertet. Im Einzelnen beruht die Grundlagenermittlung auf der
Die Auswertung der Unterlagen führt in aller Regel bereits zur Beantwortung von Fragen und zur Konkretisierung der primären Aufgabenstellung und damit des weiteren Recherchebedarfs. Darauf aufbauend wird eine Recherchestrategie durch Klärung der Frage erarbeitet: In welchen Archiven und deren Beständen können gemäß den fachtechnischen Anforderungen die notwendigen Informationen wirtschaftlich hinsichtlich
beschafft werden? Alle Ergebnisse werden in einem Bericht zur Grundlagenermittlung dokumentiert.
Archivrecherchen
Die Archivrecherchen basieren auf den Ergebnissen der Grundlagenermittlung und der vom Auftraggeber bestätigten, konkretisierten ursprünglichen Aufgabenstellung. Sie umfassen:
In den meisten Fällen decken die recherchierten Unterlagen den relevanten Nutzungszeitraum weder zeitlich noch inhaltlich lückenlos ab. Durch eine kombinierte und multitemporale Auswertung aller Quellen wird dennoch eine umfassende und realistische Erstbewertung möglich. Dabei sind die Unterlagen im Kontext historischer Vorgänge zu bearbeiten. Grundlage für die zielgerichtete und wirtschaftliche Informationsbeschaffung ist die genannte Recherchestrategie. Die Auswertung aller Quellen und Informationen sowie die Analogiebearbeitung von Standorten setzen detaillierte Fachkenntnisse, langjährige Erfahrung und eine sorgfältige Vorgehensweise voraus. Hierfür sind an den Auswerter besondere Ansprüche hinsichtlich seiner Fachkenntnisse und Erfahrungen zu stellen.
Eine Historisch-genetische Rekonstruktion der Kampfmittelbelastung untersucht und bewertet folgende thematische Schwerpunkte:
Die Arbeitsschwerpunkte werden im Folgenden näher erläutert.
Standortchronik
Für den Untersuchungsbereich ist eine „Standortchronik“ zu erarbeiten. Sie stellt die Ereignisse, die zu einer Kampfmittelbelastung geführt haben können, in den historischen Zusammenhang mit der Standortentwicklung.
Eine Standortchronik umfasst
Die Angaben der Standortchronik sind den Anforderungen des Einzelfalls entsprechend ausführlich darzustellen. Dabei ist zu beachten, dass fehlende oder fälschliche Angaben zu Fehlinterpretationen führen und damit möglicherweise weit reichende Konsequenzen haben können (z. B. unerkannt bleibende Bombardierungen).
Die Nutzungschronik beschreibt die Entwicklung des Untersuchungsbereichs. Sie gibt einen allgemeinen Überblick über (wesentliche) Nutzungen und Nutzer. Im Vergleich zu detaillierten geschichtlichen Abhandlungen reicht es bei der HgR-KM im Allgemeinen aus, die für die Entwicklung wesentlichen Angaben darzustellen. Sind die Informationen allerdings für die Betrachtung der Kampfmittelbelastung von Relevanz, sind sie ausführlich zu beschreiben.
Die Angriffschronik hat demgegenüber die Vorgänge eingehend aufzuführen, die im Zusammenhang mit Kampfhandlungen standen. Hierzu gehören beispielsweise Luftangriffe, Bombardierungen und Bodenkämpfe. Wesentlich ist die vollständige Erfassung aller Vorgänge. Vermutete oder tatsächliche Kenntnislücken sind deutlich darzustellen.
Alle weiteren Handlungen und Vorgänge, die ebenfalls zu einer Belastung mit Kampfmitteln geführt haben können, sind in der Handlungschronik ebenfalls aufzuführen. Hierzu gehören zum Beispiel Munitionssprengungen, Munitionsvergrabungen und Havarien. Kenntnislücken sind wiederum ausdrücklich zu nennen.
Das folgende Beispiel verdeutlicht eine Standortchronik, in der die Nutzungschronik, Angriffschronik und Handlungschronik zusammengeführt wurden.
Sept. 1936 |
Baubeginn [Quelle: a] |
1.5.1939 |
Einweihung und Stationierung der 3. Inf.-Div. [b] |
Mai 42 bis Mai 43 |
Erweiterung des Standortes um ... [c] |
11.08.1944 |
1. Luftangriff durch Einheiten der 8. USAAF [d] |
31.01.1945 |
2. Luftangriff durch die 9. USAAF [d] |
Ende April 45 |
Demontagen und Sprengungen durch [e] |
Ende April 45 |
Nutzungsende durch deutsche Truppen [b] |
Mai 45 - Juli 49 |
Nutzung durch die 23. US-Infanteriedivision [f] |
Juli 45 |
Munitionssprengungen im östlichen Teil [f] |
Ab Aug 1949 |
Zivile Nutzung durch Kleingewerbe [g] |
Fallweise können Nutzungschronik, Angriffschronik und Handlungschronik auch getrennt dargestellt werden. Dann wird jedoch empfohlen, wesentliche Entwicklungspunkte der Liegenschaftsentwicklung in die Angriffs- und Handlungschronik zu integrieren.
Für alle Angaben sind die Quellen anzugeben (vgl. hierzu Anhang A-2.2.3).
Ursachen einer Kampfmittelbelastung: Verursachungsszenarien
Die Vorgänge und Handlungen, die zu einer Kampfmittelbelastung geführt haben können, sind in ihrer zeitlichen und räumlichen Ausprägung und Veränderung umfassend zu rekonstruieren, detailliert und nachvollziehbar zu beschreiben und lagemäßig zu kartieren. Diese Ursachen werden systematisch in die „Verursachungsszenarien“ eingeordnet:
Der Untersuchungsbereich ist auf alle möglichen Verursachungsszenarien hin zu untersuchen. Die bestätigten Verursachungsszenarien sind in der HgR-KM ausführlich zu beschreiben. Für nicht bestätigte Verursachungsszenarien ist dieser Sachverhalt kurzgefasst zu belegen.
Sekundäre Kampfmittelbelastung
Kampfmittel können in Folge von Erdbewegungen (z. B. bei Baumaßnahmen) unbemerkt verlagert worden sein. „Sekundäre Kampfmittelbelastungen“ auf vormals unbelasteten Flächen einer Liegenschaft können die Folge sein. Derartige Vorgänge sind nicht auf die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschränkt, wie zahlreiche Beispiele in jüngster Zeit belegen. Dabei wurden Kampfmittel unwissend beim Aushub von Böden transportiert und verlagert.
Hinweise auf sekundäre Kampfmittelbelastungen ergeben sich insbesondere bei der Verlagerung von Böden innerhalb eines kampfmittelverdächtigen Standortes oder in dessen unmittelbarer Umgebung. Gerade länger zurückliegende Massenverlagerungen lassen sich mit Archivalien manchmal nicht eindeutig rekonstruieren. In derartigen Fällen kann eine Betrachtung der Höhendifferenzen zwischen ursprünglicher und heutiger Geländeoberfläche erfolgversprechend sein. Bohrungen, Schürfe und andere Bodenaufschlüsse liefern weitere wesentliche Informationen.
Kampfmittelräumungen
Das Untersuchungsgebiet ist auf bereits durchgeführte Kampfmittelräumungen zu überprüfen. Hierzu sind alle Unterlagen zu früheren Kampfmittelräumungen zu beschaffen. Räumprotokolle von benachbarten Grundstücken können wichtige Informationen zur tatsächlichen Kampfmittelbelastung der Untersuchungsfläche enthalten. Sie sollten deshalb ebenfalls beschafft und ausgewertet werden.
Die Recherche nach Dokumenten zu durchgeführten Räumungen erfolgt zunächst bei den zuständigen Kampfmittelräumdiensten. Darüber hinaus können aber auch die Archive der Liegenschaftseigentümer und der Bauverwaltungen derartige Dokumente besitzen. Weitere Unterlagen, v.a. auch zu länger zurückliegenden Räumungen, sind häufig auch in den Bundesarchiven, Landesarchiven und teilweise auch in kommunalen Archiven überliefert. Demgegenüber enthalten Firmenarchive von Räumfirmen häufig nur Unterlagen zu Räumungen der jüngeren Vergangenheit.
Zahlreiche Beispiele belegen, dass vermeintlich heute noch kampfmittelbelastete Flächen bereits geräumt wurden. Ohne Recherche derartiger Informationen wäre möglicherweise eine erneute und damit vermeidbare Räumung durchgeführt worden. Deshalb soll die Recherche nach durchgeführten Kampfmittelräumungen umfassend und erschöpfend erfolgen. Die Dokumentation länger zurückliegender Räumungen ist zumeist unvollständig. Nur aus dem Zusammenführen aller Informationen lässt sich häufig ein verlässliches Bild bereits durchgeführter Kampfmittelräumungen rekonstruieren.
Baumaßnahmen
Tiefbaumaßnahmen, die nach Ende von kampfmittelbelastungsverursachenden Vorgängen und Handlungen stattfanden, können zur teilweisen oder vollständigen Beseitigung von Kampfmitteln geführt haben. Beispielsweise sind Stellungssysteme, die Tiefen von 1,5 bis 2 m i. d. R. nicht überschreiten, bei der Anlage von unterkellerten Gebäuden bei der Auskofferung meist entfernt worden. Andererseits können tiefer liegende Bombenblindgänger bei unterkellerten Gebäuden überbaut worden sein, da die Baugrube häufig nicht bis in die Tiefenlage von Bombenblindgängern reichte.
Art und Umfang derartiger Tiefbaumaßnahmen sind deshalb zu recherchieren und darzustellen. Insbesondere die Tiefe der Baugrube, der Zeitpunkt der Baumaßnahme und mögliche Kampfmittelräummaßnahmen oder Kampfmittelfunde sind zu ermitteln und zu dokumentieren.
Kostenwirkungsfaktoren
Über den Standort, die Kampfmittelbelastung und die rechtlich relevanten Rahmenbedingungen werden eine Vielzahl von Informationen für die historisch-genetische Rekonstruktion und die Gefährdungsabschätzung benötigt. Diese Informationen fließen in der Regel auch in das Räumkonzept ein. Wegen ihrer Kostenwirksamkeit sind sie für eine eindeutige Beschreibung der Kampfmittelräumung unverzichtbar. Sie werden deshalb als Kostenwirkungsfaktoren bezeichnet.
Die Kostenwirkungsfaktoren werden in die Gruppen „Standortfaktoren“, „kampfmittelbedingte Faktoren“ und „rechtliche Rahmenbedingungen“ gegliedert.
Die Kostenwirkungsfaktoren werden in der Anlage A-9.1.2 aufgeführt und beschrieben.
Viele der Kostenwirkungsfaktoren sind für eine historisch-genetische Rekonstruktion der Kampfmittelbelastung und der damit einhergehenden Bewertung relevant. Sie sind gemäß den Anforderungen des Einzelfalls zu erheben.
Kontaminationsverdächtige Flächen (KVF)
Durch die Auswertung der Quellen werden i. d. R. Hinweise auf kontaminationsverdächtige Flächen gefunden. Sie sind gemäß den Anforderungen der Baufachlichen Richtlinien Boden- und Grundwasserschutz zu dokumentieren.
Darstellung und Bewertung der Kampfmittelbelastung
Die Untersuchungen und Ergebnisse einer Historisch-genetischen Rekonstruktion der Kampfmittelbelastung sind textlich und kartografisch nachvollziehbar zu dokumentieren. Insbesondere die lagegetreue Lokalisierung aller Verdachtspunkte, -objekte und -bereiche ist notwendig. Hierfür sind die vom Bund eingeführten Geographischen Informationssysteme (GIS) einzusetzen. Anforderungen zur Gliederung und den Inhalten einer HgR-KM sind in der Technischen Spezifikation Anhang A-9.2.9 definiert.
Die getroffenen Aussagen sind eindeutig zu zitieren. Insbesondere sind Zitate und sinngemäß wiedergegebene Aussagen im Gegensatz zu subjektiven Interpretationen deutlich zu kennzeichnen. Zudem sind alle Quellen nachvollziehbar aufzuführen. Nähere Hinweise finden sich im Anhang A-2.2.3.
Auf Grundlage aller erhobenen Daten und deren eindeutiger und nachvollziehbarer Darstellung ist eine Bewertung der möglichen Kampfmittelbelastung vorzunehmen. Hierzu gehört auch die kritische Wertung der Quellenlage, um Kenntnislücken und offene Fragen aufzeigen zu können.
Die Bewertung erfolgt gemäß den Anforderungen des Kap. 5 und des Anhangs A-2.5.